Regel Nummer eins bei Hassnachrichten: nie alleine damit bleiben. Immer jemandem zeigen. Eine Antwort verdient der Absender hingegen nicht.
Die E-Mail an mich, die nachts um halb zwei abgeschickt worden sein muss, enthält eine sehr deutliche Morddrohung. Mit Ort und Methode. Es ist Sonntagabend, und ich habe meine Mails geöffnet, um die Bestätigung meiner Essenslieferung zu lesen. Stattdessen klappe ich den Laptop zu. Neben mir sitzt meine Partnerin, hungrig, und fragt, ob mit der Bestellung alles in Ordnung sei. Ja, antworte ich tonlos. Zwanzig Minuten später – sie sitzt noch immer mit mir am selben Tisch – schreibe ich ihr, was geschehen ist. Per SMS. Ich bringe es nicht über mich, es ihr ins Gesicht zu sagen. Ich beschreibe auch nicht den Inhalt der Mail, ich tippe nur: «ich hab per mail eine morddrohung erhalten 🙁 eine ziemlich schlimme.» Dann rufe ich einen guten Freund an, um ihm davon zu erzählen.
Meine Regel Nummer eins: mit keiner einzigen Hassnachricht alleine bleiben. Nie. Immer jemandem zeigen.
Vor allem den Fachstellen. Ich mache von jeder Hassnachricht einen Screenshot. Von der Nachricht, vom Profil des Verfassers und vom gesamten Bildschirm, also mitsamt der Datums- und Zeitanzeige meines Laptops. So habe ich Beweise, falls er sein Profil löschen sollte.
Einmal sass ich lernend in der Unibibliothek, und ein Fremder schrieb mir, er kenne meinen Bruder (was glaubhaft ist, ich habe ungefähr tausend Brüder). Bevor ich antworten konnte, schickte er ein Foto seines erigierten Penis. Fünf Minuten später war sein Profil weg – und ich hatte keinen Screenshot, der mir geholfen hätte, den Fremden anzuzeigen. Das war mir eine Lehre.
Heute mache ich die Screenshots automatisch, und die Übermittler der ungebetenen Penisbilder zeige ich an mit einem extra dafür gestalteten Onlinetool: Ich fülle ein paar Infofelder aus, lade die Screenshots hoch und wenige Minuten später drucke ich den fertigen Strafantrag aus. Tragikomisch übrigens, dem Drucker dabei zuzusehen, wie er als Teil des Dokuments das vergrösserte Penisbild ausdruckt.
Die Morddrohung, die ich statt der Essenslieferungsbestätigung öffne, lese ich nur ein einziges Mal. Am nächsten Tag rufe ich den Polizeiposten meines Stadtteils an, wo einer kurz überfordert auflacht, als ich beschreibe, was geschehen ist, bevor er mich zur Kriminalpolizei schickt. Dort erhalte ich ein Namensetikett mit Gendersternchen und setze mich in einen Warteraum mit genderneutraler Toilette.
«die kripo gendert und hat ein genderneutrales wc, wtf», schreibe ich einem Freund. «stell dir vor, was die für einen stress hatten, als sie erfuhren, dass eine feministin kommt», antwortet er.
Dann spreche ich eine gute Stunde mit einem Polizisten über das Geschehene und er macht keinen einzigen Witz. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich digitale Gewalt überhaupt melde: Ich will die Hassnachrichten ernst nehmen. Es kommt noch früh genug, dass ich darüber Pointen schreiben und performen werde vor einem Publikum, das diese Situationen nur zu gut kennt, denn mein Publikum ist mehrheitlich weiblich. Das reicht, um anonyme Hassnachrichten zu erhalten.
«Ich habe Sie vorher nicht gekannt», sagt der Polizist am Ende unseres Gesprächs, das Ergebnis seiner Google-Suche meines Namens noch immer auf dem Bildschirm.
Sie nicht, aber Ihre Tochter, denke ich mir.
Andere Hassnachrichten melde ich nicht so aufwendig, sondern mit wenigen Klicks: Sie alle landen bei einem Verein gegen digitale Gewalt. Queerfeindliche Nachrichten schicke ich zusätzlich einer spezifischen Helpline, antisemitischen Hass der Meldestelle für entsprechende Vorfälle. Sie alle helfen mir nicht nur, einzuschätzen, ob eine Strafanzeige sinnvoll ist, sie anerkennen auch, dass das, was ich erhalte, scheisse ist. Indem ich den Hass nicht für mich behalte, kann er Teil von wichtigen Statistiken werden.
Bei mir lösche ich alles: die Nachricht, die Screenshots, sogar meine Mail an die entsprechende Fachstelle, und dann leere ich noch den «Gelöscht»-Ordner. Damit ich in keinem Fall ein zweites Mal lesen muss, was mir gedroht wurde. Diese Strategie hilft mir erstaunlich gut, den Inhalt der Hassnachricht zu vergessen.
Ich trete mit gemischten Gefühlen aus dem Posten der Kriminalpolizei. Einerseits spüre ich, dass es guttut, die Nachricht gemeldet zu haben und ernst genommen zu werden. Andererseits hat der Polizist am Ende suggeriert, ich solle mich schützen, indem ich mich weniger angreifbar mache. Zu Ende gedacht hiesse das, dass sich sämtliche Frauen aus der Öffentlichkeit zurückziehen müssten. Wie auch von Rassismus betroffene Menschen. Queers ebenfalls. Und das sind bloss diejenigen Eigenschaften, aufgrund deren ich selbst Hassnachrichten erhalte.
Obwohl: Genau genommen erhalte ich digitale Hassnachrichten ja nicht, weil ich eine queere Frau mit jüdischen Wurzeln bin. Sondern weil das Internet sicherer ist für menschenverachtende User als für Minderheiten.
Wenige Tage später kaufe ich mir ein Buch namens «How to Be a Woman Online», geschrieben von Nina Jankowicz, der ehemaligen Exekutivdirektorin des US-amerikanischen Disinformation Governance Board. Sie führt das Phänomen des engagement boner an, also die Erregung eines Absenders darüber, dass sich jemand auf ihn einlässt. Beleidigungen und Hass sind oft der jämmerliche Versuch, irgendwie beachtet zu werden. Vor allem dann, schreibt Jankowicz, wenn der Absender über wesentlich weniger Status verfügt als die Empfängerin. Eine Frau mit höherem Status: Das kann das männliche Ego schon mal kränken. Schafft er es allerdings, dass die Frau sich auf seinen Hass einlässt, ihm antwortet, kann er sich wichtig fühlen. Der Frau gar überlegen.
Darum: Hass verdient keine Antwort. Ich vergebe keine engagement boners. (Wenn Sie das Wort googeln, kommt übrigens Boulevard-Berichterstattung über das Phänomen, beim Heiratsantrag eine Erektion zu kriegen.)
Womöglich denkt sich die eine oder der andere beim Lesen, dass die Lösung darin liegt, sich eine dicke Haut zuzulegen: «If you can’t handle the heat, stay out of the kitchen.» Doch solange meine männlichen Kollegen es in der Küche mit Hitze, meine Kolleginnen aber mit Küchenmesserangriffen zu tun haben, will ich nicht, dass die Kolleginnen die Küche verlassen, sondern dass die Küche sicherer wird. Ich bin nicht Feministin geworden, um weniger zu fühlen. Ich bin Feministin geworden, um Gefühle ernst zu nehmen. Ich befürchte, dass sich andere junge Frauen abschrecken lassen von Berichten wie diesem, aber ich will ihnen auch nicht vorgaukeln, dass es ausnahmslos schön ist, als Frau in der Öffentlichkeit zu existieren.
Als die Velokurierin mir das Essen liefert, zwinkert sie mir freundlich zu. «Danke für deine Arbeit», sagt sie.